Im Norden der großen Stadt wird ein neuer Flughafen gebaut. Direkt in das Moor und in die Feuchtwiesen, die die Kartoffelbauern in dieser Ecke nicht bearbeiten können. Das ist für den Flughafen praktisch, aber für alle Tiere die dort wohnen eine Katastrophe. Besonders schlimm ist es für die Kiebitze. Alle Paare, die nun plötzlich heimatlos geworden sind suchen in allen Richtungen nach einem neuen Zuhause. Sie sind verzweifelt, denn es ist schon Anfang Mai, die Zeit, in der sie eigentlich längst am Brüten sind.
Ein Paar hat sich direkt nach Süden aufgemacht und fliegt in Richtung Berge, dort hoffen sie auf ein mooriges Gelände, oder wenigstens auf eine Feuchtwiese. Plötzlich warnt Frau Kiebitz ihren Mann mit einem jämmerlichen “Kiwitt”, dass sie landen und nisten muss. Der Nachwuchs will nicht länger warten. Sie sind gerade am Ende eines riesengroßen Waldes angekommen. Endlich schimmert von unten eine Wasserfläche nach oben. Gut, sie scheint nicht groß zu sein, aber immerhin, es ist Wasser, genauer gesagt, es ist das Wasser vom Teich in Wurzerls Garten.
Das Kiebitz-Paar landet, eilig werden einige Hälmchen an den Uferrand des Teiches gelegt. Der fürsorgliche Papa findet noch etwas Moos zum Auspolstern, dann nimmt Frau Kiebitz erleichtert aufstöhnend Platz und kurz darauf liegen auch schon 4 kleine birnenförmige olivbraune Eier mit schwarzen Flecken im Nest. Die müssen jetzt einen Monat gewärmt werden. Leider gibt es hier keine großen Grashalme, die das Nest ein wenig verstecken und die Eier schützen, wie das Kiebitz-Paar das aus dem Moor gewohnt ist.
Wurzerl, die Blumenelfe und der Zwobel sind schnell zur Stelle und begrüßen das Kiebitz-Paar im Garten. Groß ist die Freude über den baldigen Nachwuchs. Später winkt Wurzerl der Elfe und dem Zwobel verstohlen zu. Sie möchte noch etwas wichtiges besprechen. “Habt Ihr gesehen, wie offen das Nest am Teichrand liegt” fragt sie besorgt? Die Blumenelfe glaubt stets an das Gute, in Wurzerls Garten gibt es doch keine bösen Feinde? Der Zwobel dagegen kennt sich aus, er hüstelt etwas verlegen, als er sich an die Vogelnester erinnert, die er in der Vergangenheit schon genüsslich ausgeräubert hat. Er beschließt auf die Kiebitzeier genauso gut aufzupassen, wie auf seine Hauswurzerl im Steingarten.
Herr Kiebitz bringt seiner Gattin täglich feine Mahlzeiten zum Nest. Sie geht nur selten die paar Schritte zum Teich, um zu trinken. So vergehen einige sorglose Tage und die Gartenbewohner beginnen schon die Tage zu zählen, an denen die kleinen Kiebitz-Kinder aus den Eiern schlüpfen würden.
Eines Morgens ist das Nest umringt von Dutzenden schneeweißen Fritillaria-Blüten. Der erste Sonnenstrahl hat sie aus den Knospen heraus gekitzelt. Das Kiebitz-Nest ist zufällig mitten in der kleinen Zwiebel-Kolonie gebaut worden. Da sind die äußeren Zwiebeln hurtig ein Stück nach außen gerückt, gefolgt von den Geschwistern, die unter dem Nest waren. Wie ein weißer Rahmen umschließen sie nun das Kiebitz-Nest. Darum ist es plötzlich weit und deutlich erkennbar.
Gegen Nachmittag sieht der Zwobel am Himmel einen großen Vogel heranfliegen. Es ist Frau Rabe und sie setzt sich auf die Birke und beobachtet interessiert das Nest der Kiebitz-Familie. Als Frau Kiebitz das Nest verlässt, entdeckt Frau Rabe die kleinen braungesprenkelten Eier. Mit einem triumphierenden Lächeln fliegt sie weg. Der Zwobel hat alles beobachtet. Oh weh, wenn der Rabe zurückkommt, dann ist es um das Gelege geschehen. Schnell ruft er die Blumenelfe zu Hilfe. Er zeigt ihr die verräterischen weißen Glöckchen der Fritillaria-Blüten und deutet auf die Birke.
Die Blumenelfe wird ein klein wenig rot, sie hat tatsächlich vergessen, sich um die Sicherheit des Nestes Gedanken zu machen. Aber jetzt handelt sie ohne zu zögern. Ein wenig schwarzbraunes Lichtpulver und ein kleiner, segnender Zauber und die weißen Glöckchen sind plötzlich alle braun mit dunklen Sprenkeln, ja sie sehen genauso aus, wie die kleinen Eier im Nest. Die Blumenelfe fliegt in die Birke, um sich zu überzeugen, dass die Kiebitz-Eier völlig zwischen den Fritillaria-Blüten verschwinden. Dann kehrt sie zu ihrem Schönheitsschlaf in ihrem Himmelbett im Fliederbusch zurück.
Jetzt kommt Frau Rabe mit ihrem Bräutigam angeflogen. Für einen Moment sind zwei Schatten am Himmel zu sehen. Der Zwobel versteckt sich in der Nähe des Nestes und beobachtet, was passiert. Das Rabenpaar nimmt auf dem gleichen Ast der Birke Platz, wie schon kurz zuvor Frau Rabe alleine, als sie die Eier zwischen den weißen Fritillarias entdeckte. Aber wo sind denn die weißen Blumen hingekommen, sie sollten doch als Wegweiser zu den Eiern dienen? Irgendwie fühlt sich Frau Rabe plötzlich gar nicht mehr gut, ihr Kopf dreht sich. Sie hat das Gefühl mindestens 50 Kiebitzeier zu sehen. Wo sind sie denn nun? Ihr Angebeteter lacht sie aus und fliegt enttäuscht davon. Er hat sich umsonst auf die leckeren Eierchen gefreut. Frau Rabe folgt ihm beschämt, so etwas ist ihr ja noch nie passiert.
Die Fritillarias haben das alles gar nicht mitbekommen. Sie spiegeln sich im Teich, läuten laut vor sich hin und fühlen sich mit ihrer Schminke wie kleine Filmstars. Als Frau Kiebitz zum Nest zurückfliegt, sie hat ein paar Ehrenrunden gedreht, weil ihr ein Flügel eingeschlafen ist, da reibt sie sich die Augen. Was ist denn hier los? So viele Kiebitzeier hat sie doch gar nicht gelegt? Vorsichtig landet sie neben den Fritillarias und stolziert im Slalom zwischen den Blütenstängeln hindurch zum Nest. Gott sei Dank, da liegen ja die vier Eier unversehrt und sie setzt sich sofort wieder auf das Gelege, denn die Luft wird abends kühl.
Jeden Abend klingeln die Fritillarias nun die Kiebitze in den Schlaf. Als zwei Wochen später die kleinen Küken aus den Eiern schlüpfen, tanzen sie um die Blumen und singen: “Eine Menge Kiebitz-Eier gibt es hier, aber schlüpfen tun nur wir Vier!”. Es gibt niemanden in Wurzerls Garten, der nach diesem Lied-Vers nicht laut lachen muss. Von diesem Moment an sagt keiner mehr “Fritillaria”, jeder nennt die Blumen nur noch liebevoll “Kiebitzeier”. Keiner im Garten wird jemals vergessen, wie diese Blumen und die Elfe die kleinen Kiebitz-Kinder gerettet haben. Und die meisten Kiebitzeier-Blumen behalten ihre neue Farbe, die ihnen die Blumenelfe gab. Aber einige wollten später dann doch wieder lieber weiß werden.
12 Kommentare
Wunderschön geschrieben. Könnte Stunden mit deinen kleinen Geschichten verbringen.
Das freut mich sehr liebe Gertrud, ich wünsche Dir ein schönes Wochenende. LG Wurzerl
wieder ein sehr schönes Märchen von Dir, liebe Renate. Wie immer ein gutes Ende, wie es sein sollte. Ich wünsche Dir ein schönes Wochenende.
Vielen Dank liebe Erika, ich wünsche Dir auch ein schönes Wochenende. LG Wurzerl
Ich bin jedesmal begeistert von den Geschichten aus wurzerlsgarten
Vielen Dank liebe Silvia, das freut mich sehr. Die Märchen sind mir besonders wichtig, es gibt so viel Sex and Crime, da muss ich mich einfach ab und an zu meiner Blumenfee flüchten. Ich wünsche Dir eine gute Woche. Wurzerl
Hach ja wieder eine sehr schöne Geschichte liebe Renate
Liebe Grüße aus dem Brandenburgisch Land
Das freut mich sehr, wenn sie Dir wieder gefallen hat. Bleib gesund lieb Steffi. LG Wurzerl
was für eine hübsche Geschichte 😉
man kann es sich richtig vorstellen
liebe Grüße
Rosi
Danke, das freut mich sehr, liebe Rosi, wenn es Dir gefallen hat. LG Wurzerl
so schön….ich war sehr lange nicht bei Wurzerl zu Besuch um die schönen Geschichten zu lesen. liebe Grüße
Um so mehr freue ich mich, dass Du es mal wieder geschafft hast, liebe Steffi. LG Wurzerl